Leseprobe S.4-8: Kapitel 1
Die sowjetische Langzeitstrategie  

ISBN 978-3-946168-00-3 (Paperback, 56 Seiten)
ISBN 978-3-946168-14-0 (Audio-CD, 114 Minuten)

 

Moskau plant den Weltoktober

von Torsten Mann

Ein Vierteljahrhundert ist vergangen seit die Sowjetunion unterging und der amerikanische Politologe Francis Fukuyama »das Ende der Geschichte« verkündet hat. Und tatsächlich schien es zu Beginn der 1990er Jahre so, als seien die USA nach dem plötzlichen Untergang des Stalinismus in Osteuropa die letzte verbliebene Weltmacht. Mit der bereits erfolgten wirtschaftlichen Öffnung Rotchinas deutete alles darauf hin, als sei der Kommunismus endgültig überwunden. Es schien, als würde die damals einsetzende Globalisierung den Weg frei machen für eine friedliche Entwicklung der Menschheit nach den demokratischen und marktwirtschaftlichen Prinzipien der westlichen Welt.

Doch ein Vierteljahrhundert nach dem Untergang der Sowjetunion gerät das westliche Gesellschaftsmodell durch die Finanzkrise, die Flüchtlingskrise, die wachsende Bedrohung durch den islamistischen Terror und die angeblich drohende Klimakatastrophe nun selbst immer stärker unter Druck.


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Das rechte politische Lager macht für die zunehmenden gesellschaftlichen Verfallserscheinungen den »amerikanischen Liberalismus« verantwortlich und aus dem linken politischen Lager werden bereits Stimmen laut, die von einer sich abzeichnenden »Krise des Kapitalismus« sprechen und die eine Umgestaltung der westlichen Staaten im Sinne von »Suffizienz«, »Nachhaltigkeit« und »globaler Gerechtigkeit« fordern. Hinzu kommt die plötzliche Rückkehr der Konfrontation zwischen Ost und West anlässlich der russischen Invasion in der Ukraine und der sich verschärfenden Territorialkonflikte im chinesischen Meer.

Betrachtet man die Entwicklung der letzten Jahre, dann wird deutlich, dass die endgültige Durchsetzung des westlichen Gesellschaftsmodells vor einem Vierteljahrhundert offenbar doch etwas zu vorschnell verkündet worden ist. Dabei kamen weder der Untergang des Stalinismus zum Ende der 1980er Jahre, noch die aktuelle Rückkehr des Kalten Krieges ohne Vorwarnung. Tatsächlich wurden beide Ereignisse schon viele Jahre zuvor ausdrücklich angekündigt und zwar als Wegmarken einer Langzeitstrategie, die bereits in den 1950er Jahren in Moskau ausgearbeitet worden ist. Endziel dieser Strategie war und ist die Errichtung einer globalen Föderation sozialistischer Staaten, die von einer zur Weltregierung ausgebauten UNO planwirtschaftlich kontrolliert werden soll.[1]

Zwar war es schon seit den Tagen Lenins das erklärte Ziel der Kommunisten, ihre Revolution international auszuweiten um schließlich eine globale Räteregierung zu errichten, doch anders als Lenin versprochen hatte, war der Erste Weltkrieg nicht zu einer Weltrevolution eskaliert und das Goldene Zeitalter des Weltkommunismus war ausgeblieben. Die Niederlage der Sowjets im Krieg gegen Polen von 1921, das Scheitern des »Deutschen Oktobers« im Jahr 1923, vor allem aber die wirtschaftliche Schwäche Sowjetrusslands machten damals die Entwicklung einer völlig neuen Strategie für die globale Ausbreitung des kollektivistischen Gesellschaftsmodells nötig. Zu diesem Zweck führte Lenin auf dem 10. Parteitag der Kommunistischen Partei im Jahr 1921 die »Neue Ökonomische Politik« (NEP) ein, die weitreichende Liberalisierungen und die Wiedereinführung marktwirtschaftlicher Elemente in die sowjetrussische Wirtschaft vorsah und die erstmals eine Abkehr von der kommunistischen Ideologie vortäuschte. Dieser Eindruck wurde im Jahr 1925 weiter verstärkt, als auf dem 14. KPdSU-Parteitag Lenins Konzept der »friedlichen Koexistenz« zwischen der Sowjetunion und den kapitalistischen Staaten zur Grundlage der sowjetischen Außenpolitik gemacht wurde, was den Anschein verstärkte, die Sowjetunion gäbe den Kommunismus auf und wandle sich in einen nationalistischen Staat, der eine rein opportunistische Politik betreibe und keine ideologischen Ziele mehr verfolge. In Wirklichkeit sollte die »friedliche Koexistenz« der Sowjetunion jedoch nur eine »Atempause« verschaffen, um den wirtschaftlichen Entwicklungsrückstand des Ostens auf das Niveau der westlichen Industrieländer anzuheben. Erst wenn dieses Ziel erreicht sei, sollte die »zweite Phase des Sozialismus« beginnen und mit ihr »die Reaktivierung des revolutionären Potentials in der westlichen Welt«, das heißt, erst dann sollte der Klassenkampf und die offene Konfrontation gegen die westlichen Staaten zurückkehren.[2]

Parallel zur NEP initiierte der sowjetische Geheimdienst GPU – der Vorläufer des KGB – mit der Operation »Trust« zur selben Zeit eine gesteuerte Oppositionsbewegung gegen das sowjetische Regime, die den Zweck verfolgte, echte Antikommunisten und Monarchisten zu identifizieren, die nach dem Bürgerkrieg in der Sowjetunion verblieben oder ins Ausland geflohen waren und die eine lose organisierte Untergrundbewegung bildeten. Tatsächlich gelang es dem sowjetischen Geheimdienst damit im Lauf der 1920er Jahre zahlreiche Regimegegner zu neutralisieren und den antikommunistischen Widerstand erheblich zu schwächen. Zudem bewirkte die NEP schon bald einen wirtschaftlichen Aufschwung mit einer deutlichen Verbesserung der Versorgungssituation und auch die internationale politische Isolierung des kommunistischen Lagers konnte überwunden werden.

Trotz der offensichtlichen Erfolge dieser neuen Strategie wurde die NEP nach dem Tod Lenins durch seinen Nachfolger Stalin auf dem 15. KPdSU-Parteitag im Jahr 1927 vorzeitig beendet.Damit begann die Phase des Stalinismus, die den Fortschritt der Revolution auf dem Weg zum Weltkommunismus um Jahrzehnte zurückwerfen sollte. Denn die aggressive Außenpolitik Stalins und seine zahllosen offensichtlichen Verbrechen hatten zur Folge, dass die Weltöffentlichkeit spätestens in den 1950er Jahren ein Bewusstsein für die vom Kommunismus ausgehende Bedrohung entwickelte. Auch die unter dem sowjetischen Diktat leidenden Völker Osteuropas waren zu jener Zeit bereit zur Revolte, wie der Arbeiteraufstand in der »DDR« von 1953 sowie der Posener Aufstand und der Ungarnaufstand von 1956 zeigen. Stalins Herrschaft hatte bewirkt, dass der Kommunismus zu Beginn der 1950er Jahre ideologisch gespalten, international diskreditiert und politisch isoliert war und im sowjetischen Einflussbereich nur mit roher Gewalt aufrechterhalten werden konnte. Wäre es damals zu einer unbeschränkten militärischen Konfrontation mit der freien Welt gekommen, die sich inzwischen in antikommunistischen Verteidigungsbündnissen wie der NATO in Europa und der SEATO in Asien organisiert hatte, wäre das kommunistische Lager zwangsläufig und vollständig zusammengebrochen.

Erst nachdem sich Nikita Chruschtschow in den parteiinternen Machtkämpfen, die auf Stalins Tod gefolgt waren, an der Spitze der KPdSU durchgesetzt hatte, griff die Parteiführung auf die von Lenin vorgegebenen Konzepte der »friedlichen Koexistenz« und der NEP zurück, die dem Kommunismus die nötige »Atempause« zur Konsolidierung verschaffen sollten, bevor er erneut auf Konfrontationskurs gegen die westliche Welt gehen könne. So entstand in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre die sowjetische Langzeitstrategie, die auf den Vorgaben Lenins basierte und die Politik des gesamten kommunistischen Lagers über die nächsten Jahrzehnte bestimmen sollte.

Wie diese neue Strategie genau konzipiert war und welche Ziele sie im Einzelnen verfolgte, wurde erstmals durch den KGB-Major Anatoliy Golitsyn bekannt, der im Jahr 1961 die Seiten wechselte und in die USA überlief. Golitsyn berichtete, dass Moskau seit dem 20. KPdSU-Parteitag im Jahr 1956 unter dem Deckmantel der »friedlichen Koexistenz« eine neue politische Offensive begonnen habe, die nach einer Phase intensiver Vorbereitungen sogar ein vorübergehendes Verschwinden des Kommunismus in Osteuropa vortäuschen würde, um damit die Voraussetzungen für seine Rückkehr im Weltmaßstab und die Errichtung einer globalisierten Sowjetregierung zu schaffen. Wenige Jahre später – während der Niederschlagung des Prager Frühlings durch die Rote Armee im Jahr 1968 – lief der tschechoslowakische General Jan Sejna zum Westen über und bestätigte Golitsyns Berichte über die Existenz einer solchen Langzeitstrategie. Doch obwohl beide Überläufer von westlichen Geheimdiensten lange und intensiv befragt wurden, was zur Enttarnung einer Anzahl sowjetischer Agenten führte, interessierte sich niemand für die Details dieser Strategie, denn ein plötzliches und noch dazu von den Sowjets nur vorgetäuschtes Verschwinden des Kommunismus schien auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges schlichtweg als zu unwahrscheinlich. Deshalb gerieten die beiden Überläufer in Vergessenheit, nachdem ihnen in den USA politisches Asyl gewährt worden war, sie jeweils eine neue Identität erhalten hatten und die westlichen Geheimdienste das Interesse an ihnen verloren hatten. Dies änderte sich auch nicht, als beide unabhängig voneinander zu Beginn der 1980er Jahre – also noch vor Michail Gorbatschows Erscheinen auf der weltpolitischen Bühne – Bücher veröffentlichten, in denen sie die bevorstehenden Liberalisierungen im Ostblock als Teil einer großangelegten strategischen Täuschung ankündigten.

Zweck dieser Täuschung sei, aus der westlichen Welt in möglichst großem Umfang Finanzhilfen und Technologie für die chronisch marode kommunistische Infrastruktur zu erhalten und die westlichen Staaten nicht nur militärisch und ideologisch zu entwaffnen, sondern auch wirtschaftlich zu untergraben.[3] Sobald der Ostblock anschließend die militärische und wirtschaftliche Überlegenheit erreicht hätte, werde Moskau die Blockkonfrontation, den Kalten Krieg und das Wettrüsten wiederbeleben und die westliche Welt unter Druck setzen, sich der Errichtung einer kommunistischen Weltregierung zu fügen.

Wie General Sejna berichtete, hatten die Staatschefs der sowjetischen Verbündeten erstmals auf dem Warschauer Pakt-Gipfel im Herbst 1966 von der Existenz der sowjetischen Langzeitstrategie erfahren. Bereits in den Jahren zuvor hatte es Mutmaßungen gegeben, dass die Sowjets strategische Ziele verfolgten, die sie vor ihren Verbündeten geheim hielten, was erhebliche Schwierigkeiten bei der blockweiten Koordinierung der osteuropäischen Planwirtschaft zur Folge hatte.[4] Die sowjetische Parteiführung willigte daraufhin ein, die Regierungen ihrer osteuropäischen Verbündeten in den strategischen Planungsprozess einzubeziehen, was zur Ausarbeitung spezifischer Teilpläne für die osteuropäischen Staaten führte, ohne dass deren Vertreter jedoch einen umfassenden Überblick über die sowjetische Gesamtplanung erhalten hätten. Auch innerhalb der osteuropäischen Staaten wurde auf strenge Spezialisierung und Geheimhaltung geachtet.[5] Als Parteisekretär und ranghoher Mitarbeiter im tschechoslowakischen Verteidigungsministerium war General Sejna in einer Funktion, in der er eine von nur zwei existierenden Kopien des tschechoslowakischen Teilplans besaß und in der die wichtigsten sowjetischen Direktiven durch seine Hände gingen, so dass er einen umfassenden Einblick in die Strategie bekam, während andere Ministerien nur in jene Aspekte eingeweiht wurden, die für ihre Arbeit unverzichtbar waren.[6]

Laut Sejna umfasste die sowjetische Langzeitstrategie vier aufeinanderfolgende Zeitabschnitte, die auf dem Stand der Planung von 1968 wie folgt lauteten:

- Phase 1, »Die Periode der Vorbereitung zur friedlichen
Koexistenz«, (Entstalinisierung) 1956-1959;

- Phase 2, »Der friedliche Koexistenz-Kampf«,
(Entspannung) 1960-1972;

- Phase 3, »Die Periode des dynamischen sozialen Wandels«,
(Perestroika) 1973-1995;

- Phase 4, »Die Ära des globalen demokratischen Friedens«,
(Übergang zum Weltkommunismus) ab 1995.

Da sich im Verlauf der Jahrzehnte zahlreiche Rückschläge ergaben, die den Ablauf der Strategie zurückwarfen, verzögerten sich die Phasen 3 und 4 um einige Jahre.[7] Phase 3 begann im Jahr 1985, der Übergang zur Phase 4 dürfte sich erst im Jahr 2000 vollzogen haben.

[1] New Lies For Old S.89
[2] Die Gesellschaftslehre des sowjetischen Marxismus S.70f
[3] Sejna: We Will Bury You, 1982; Golitsyn: New Lies For Old, 1984
[4] We Will Bury You S.100ff
[5] Decision making in Communist Countries S.48ff
[6] Red Cocaine S.130
[7] We will bury you S.106

 


Torsten Mann,
Jahrgang 1976, ist politischer Publizist. Er vertritt die These, dass der Kommunismus zu Beginn der 1990er Jahre nicht untergegangen ist, sondern unter Beibehaltung seiner Ziele lediglich eine planmäßige Umgestaltung seiner Methoden vorgenommen hat.

 

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