04. Februar 2018
Grauer Terror in Rjasan


von Torsten Mann

Im September 1999 kam es zu einer Serie von vier Bombenanschlägen auf Wohnblocks in den russischen Städten Buinaksk, Moskau und Wolgodonsk, bei denen 293 Menschen starben und über 1000 verletzt wurden. Die russische Regierung unter dem kurz zuvor von Präsident Boris Jelzin ernannten Premierminister Wladimir Putin machte islamistische Terroristen für die Anschläge verantwortlich und behauptete, diese würden von Schamil Bassajew angeführt, hätten ihre Basis in der nach Unabhängigkeit strebenden Republik Tschetschenien und stünden mit Osama bin Laden in Verbindung. Doch nachdem ein fünfter Bombenanschlag in Rjasan durch einen Zufall verhindert werden konnte, kamen schon bald Zweifel an der offiziellen Darstellung der Ereignisse auf, denn die Untersuchung der örtlichen Behörden deutete darauf hin, dass nicht islamistische Terroristen hinter den Anschlägen steckten, sondern in Wirklichkeit Agenten des russischen Geheimdiensts FSB.

 



   
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Am Abend des 22. September hatte ein aufmerksamer Bewohner eines Wohnblocks in Rjasan bei der örtlichen Polizei gemeldet, dass er drei verdächtige Personen dabei beobachtet habe, wie sie schwere Säcke aus einem Auto geladen und im Keller des Hauses verstaut hatten. Die Polizei fand anschließend drei Zuckersäcke mit je 50kg eines gelblichen Granulats, die mit einem Zeitzünder verbunden waren. Vorschriftsgemäß wurden der Wohnblock und alle umliegenden Gebäude evakuiert, während Sprengstoffexperten der örtlichen MWD-Bezirksdienststelle mittels eines Gasprüfgeräts noch vor Ort eine Analyse durchführten, die zu dem Ergebnis kam, dass die Zuckersäcke mit dem militärischen Sprengstoff Hexogen gefüllt waren. Auch die Zeitschaltuhr, die Energieversorgung und der Zünder stammten offensichtlich aus militärischen Beständen. Daraufhin wurde die Bombe in Gegenwart von Vertretern der örtlichen FSB-Dienststelle entschärft und sichergestellt. Für die Behörden von Rjasan, einschließlich des örtlichen FSB, bestand kein Zweifel daran, dass es sich um eine scharfe Bombe handelte und dass tatsächlich ein versuchter Terroranschlag vorlag. Daher leiteten die örtlichen Behörden noch in derselben Nacht eine Großfahndung nach den drei Verdächtigen ein, welche die Stadt Rjasan in einen regelrechten Ausnahmezustand versetzte: Phantombilder der Verdächtigen wurden verbreitet, an sämtlichen Ausfallstraßen wurden Verkehrskontrollen errichtet, die Bahnhöfe wurden überwacht und das Militär begann damit, die Wohnblöcke der Stadt systematisch zu kontrollieren. Am Morgen des 23. September meldeten die russischen Medien offiziell, dass in der Nacht zuvor ein Terroranschlag in Rjasan vereiteln worden sei und dass die örtlichen Behörden dabei Zuckersäcke sichergestellt hätten, die mit Hexogen gefüllt waren. Noch am selben Tag befahl die russische Regierung als Reaktion auf die Anschlagsserie die Bombardierung der tschetschenischen Stadt Grosny und damit begann der zweite Tschetschenienkrieg.

Dann jedoch nahm der Fall am Abend des 23. September eine spektakuläre Wendung, als es der Telefonzentrale in Rjasan gelang, ein verdächtiges Telefongespräch zu protokollieren, in dem eine nervöse Stimme Anweisungen von ihren Vorgesetzten mit dem Hinweis erbat, dass es gefährlich sei, sich aus der Stadt abzusetzen. Die beiden an dem Gespräch beteiligten Telefonnummern konnten rasch ermittelt werden, was es den örtlichen Behörden ermöglichte, den Standort der Terroristen in Rjasan zu bestimmen. Zur Überraschung der örtlichen FSB-Beamten stellte sich jedoch heraus, dass die andere Nummer zu einem FSB-Büro in Moskau gehörte, von wo die Bombenleger offensichtlich ihre Befehle erhalten halten. Noch bevor sie die Terroristen verhaftet konnten, bekamen die örtlichen Behörden unerwartet die Anweisung aus Moskau, die Festnahme zu unterlassen. Doch der örtliche FSB befolgte diese Anweisung nicht und verhaftete die Verdächtigen auf eigene Faust. Mehr noch, obwohl sich die Verdächtigen nach ihrer Verhaftung als Agenten der Moskauer FSB-Zentrale zu erkennen gaben, wurden sie von den Leuten der örtlichen FSB-Dienststelle »übel zugerichtet«, wie der KGB/FSB-Überläufer Alexander Litwinenko später berichtete.[1] Da die Situation nun endgültig außer Kontrolle zu geraten drohte, schickte die Moskauer FSB-Zentrale umgehend einige Mitarbeiter nach Rjasan, die dort nicht nur die verhafteten Bombenleger übernahmen und aus der Stadt brachten, sondern auch die Zuckersäcke mit dem Sprengstoff sowie die Ergebnisse der Analyse beschlagnahmten. Völlig überraschend für die Öffentlichkeit und die Rjasaner Behörden behauptete die Moskauer FSB-Führung dann plötzlich, dass der Zwischenfall weder ein versuchter, noch ein verhinderter Terroranschlag gewesen sei, sondern lediglich eine Übung. In den Säcken habe sich kein Sprengstoff, sondern lediglich Zucker befunden, der Zündmechanismus sei eine Attrappe gewesen. Im Anschluss daran wurden nicht nur alle Beweise des Vorfalls in Rjasan als geheim eingestuft und für 75 Jahre versiegelt, sondern auch die Trümmer der bereits gesprengten Wohnblocks wurden in großer Eile beseitigt.

Zwar erweckt der Vorfall in Rjasan an sich bereits den Verdacht, dass der russische Geheimdienst FSB die Anschlagserie unter der falschen Flagge des islamischen Terrors inszeniert hatte, um damit eine Legitimation für einen neuen Tschetschenienkrieg zu erhalten, doch weitere Details deuten auf eine noch größere Tragweite der Ereignisse hin. Höchst mysteriös erscheint zum Beispiel die Tatsache, dass der Terroristenführer Schamil Bassajew, den der Kreml für die Anschlagserie verantwortlich machte, zwar zur selben Zeit im Süden Russlands tatsächlich einen Kleinkrieg gegen die russische Armee führte, aber jegliche Beteiligung an den Anschlägen vehement abstritt. Hinzu kommt, dass Bassajew laut mehreren russischen Medienberichten selbst als langjähriger Agent des russischen Militärgeheimdiensts GRU gilt, der von Repräsentanten des Kreml wenige Wochen zuvor damit beauftragt worden sein soll, einen Krieg in Tschetschenien zu beginnen. Sogar der tschetschenische Mufti Achmat Kadyrow stellte im Januar 2000 fest, dass der zweite Tschetschenienkrieg nicht von tschetschenischen Rebellen begonnen worden sei, sondern von Provokateuren, die im Dienste Moskaus standen. Er behauptete, der russische Generalstab kontrolliere den Krieg auf beiden Seiten der Front. Bemerkenswert ist, dass Kadyrow nach dieser Aussage vom Kreml zum russischen Statthalter in Tschetschenien ernannt wurde, wo er den gewählten Präsidenten Aslan Maschadow ersetzte. Auch Maschadow hatte schon im September 1999 ähnliche Ansichten geäußert, nämlich dass die Rebellen rund um Bassajew von Moskau aus gesteuert und finanziert würden. Weiter sagte er: »Wir werden vermutlich einen großen Krieg erleben, einen Flächenbrand. Daran sind aber allein die Russen schuld. Der ganze Fundamentalismus, Extremismus und Terrorismus ist künstlich geschaffen worden.«[2] Bemerkenswert ist darüber hinaus, dass der zweite Tschetschenienkrieg auf russischer Seite offenbar schon ein halbes Jahr im Voraus geplant worden war. Wie Alexander Litwinenko berichtete, hatte der frühere Geheimdienstchef Sergej Stepaschin im Januar 2000 bekannt gegeben, dass die »Entscheidung, in Tschetschenien einzumarschieren, bereits im März 1999 getroffen« worden sei, dass man den Angriff »für August/September geplant« hatte und dass »es dazu selbst dann gekommen wäre, wenn es in Moskau keine Explosionen gegeben hätte«.[3] Litwinenko kam angesichts der Ereignisse zu folgendem Schluss: Die russischen Geheimdienste »wollten Russland in einen Krieg mit Tschetschenien verwickeln und die sich daraus ergebende Unruhe ausnutzen, um in Russland bei den bevorstehenden Präsidentschaftswahlen im Jahr 2000 die Macht zu übernehmen. (…) Das Ganze war nichts anderes als eine Verschwörung mit dem Ziel, dem ehemaligen KGB eine Machtergreifung unter der Parole eines Kampfs gegen den tschetschenischen Terrorismus zu ermöglichen.«[4] Wenn dies tatsächlich das Ziel der Anschläge war, dann wurde es erreicht, denn knapp drei Monate nach Beginn des zweiten Tschetschenienkrieges konnte der langjährige KGB/FSB-Offizier Wladimir Putin am »Tag der Tschekisten« in der Geheimdienstzentrale verkünden: »Erlauben Sie mir, Bericht zu erstatten, dass die von Ihnen in die Regierung abkommandierten Mitarbeiter des FSB ihre Aufgabe erfolgreich erfüllen.«[5]

Nachsatz: Als »Grauer Terror« werden laut dem GRU-Überläufer Viktor Suworow solche Anschläge bezeichnet, die von sowjetrussischen Geheimdiensten unter falscher Flagge begangen oder sogar als natürliche Unglücke oder menschliches Versagen getarnt werden.[6]

[1] Alexander Litwinenko / Juri Felschtinski - Eiszeit im Kreml S.154
[2] Paul Klebnikow - Der Pate des Kreml S.383
[3] Alexander Litwinenko / Juri Felschtinski - Eiszeit im Kreml S.233
[4] Alexander Litwinenko / Juri Felschtinski - Eiszeit im Kreml S.127/239f
[5] Boris Reitschuster - Putins Demokratur S.39
[6] Viktor Suworow - Speznas S.153ff


Torsten Mann, Jahrgang 1976, ist politischer Publizist. Er vertritt die These, dass der Kommunismus zu Beginn der 1990er Jahre nicht untergegangen ist, sondern unter Beibehaltung seiner Ziele lediglich eine planmäßige Umgestaltung seiner Methoden vorgenommen hat.

 

 

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