04.
Februar 2018 |
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Am Abend
des 22. September hatte ein aufmerksamer Bewohner eines
Wohnblocks in Rjasan bei der örtlichen Polizei gemeldet, dass er
drei verdächtige Personen dabei beobachtet habe, wie sie schwere
Säcke aus einem Auto geladen und im Keller des Hauses verstaut
hatten. Die Polizei fand anschließend drei Zuckersäcke mit je
50kg eines gelblichen Granulats, die mit einem Zeitzünder
verbunden waren. Vorschriftsgemäß wurden der Wohnblock und alle
umliegenden Gebäude evakuiert, während Sprengstoffexperten der
örtlichen MWD-Bezirksdienststelle mittels eines Gasprüfgeräts
noch vor Ort eine Analyse durchführten, die zu dem Ergebnis kam,
dass die Zuckersäcke mit dem militärischen Sprengstoff Hexogen
gefüllt waren. Auch die Zeitschaltuhr, die Energieversorgung und
der Zünder stammten offensichtlich aus militärischen Beständen.
Daraufhin wurde die Bombe in Gegenwart von Vertretern der
örtlichen FSB-Dienststelle entschärft und sichergestellt. Für
die Behörden von Rjasan, einschließlich des örtlichen FSB,
bestand kein Zweifel daran, dass es sich um eine scharfe Bombe
handelte und dass tatsächlich ein versuchter Terroranschlag
vorlag. Daher leiteten die örtlichen Behörden noch in derselben
Nacht eine Großfahndung nach den drei Verdächtigen ein, welche
die Stadt Rjasan in einen regelrechten Ausnahmezustand
versetzte: Phantombilder der Verdächtigen wurden verbreitet, an
sämtlichen Ausfallstraßen wurden Verkehrskontrollen errichtet,
die Bahnhöfe wurden überwacht und das Militär begann damit, die
Wohnblöcke der Stadt systematisch zu kontrollieren. Am Morgen
des 23. September meldeten die russischen Medien offiziell, dass
in der Nacht zuvor ein Terroranschlag in Rjasan vereiteln worden
sei und dass die örtlichen Behörden dabei Zuckersäcke
sichergestellt hätten, die mit Hexogen gefüllt waren. Noch am
selben Tag befahl die russische Regierung als Reaktion auf die
Anschlagsserie die Bombardierung der tschetschenischen Stadt
Grosny und damit begann der zweite Tschetschenienkrieg.
Dann jedoch nahm der Fall am
Abend des 23. September eine spektakuläre Wendung, als es der
Telefonzentrale in Rjasan gelang, ein verdächtiges
Telefongespräch zu protokollieren, in dem eine nervöse Stimme
Anweisungen von ihren Vorgesetzten mit
dem Hinweis erbat, dass es gefährlich sei, sich aus der Stadt
abzusetzen. Die beiden an dem Gespräch beteiligten
Telefonnummern konnten rasch ermittelt werden, was es den
örtlichen Behörden ermöglichte, den Standort der Terroristen in
Rjasan zu bestimmen. Zur Überraschung der örtlichen FSB-Beamten
stellte sich jedoch heraus, dass die andere Nummer zu einem
FSB-Büro in Moskau gehörte, von wo die Bombenleger
offensichtlich ihre Befehle erhalten halten. Noch bevor sie die
Terroristen verhaftet konnten, bekamen die örtlichen Behörden
unerwartet die Anweisung aus Moskau, die Festnahme zu
unterlassen. Doch der örtliche FSB befolgte diese Anweisung
nicht und verhaftete die Verdächtigen auf eigene Faust. Mehr
noch, obwohl sich die Verdächtigen nach ihrer Verhaftung als
Agenten der Moskauer FSB-Zentrale zu erkennen gaben, wurden sie
von den Leuten der örtlichen FSB-Dienststelle »übel
zugerichtet«, wie der KGB/FSB-Überläufer Alexander
Litwinenko später berichtete.[1] Da die
Situation nun endgültig außer Kontrolle zu geraten drohte,
schickte die Moskauer FSB-Zentrale umgehend einige Mitarbeiter
nach Rjasan, die dort nicht nur die verhafteten Bombenleger
übernahmen und aus der Stadt brachten, sondern auch die
Zuckersäcke mit dem Sprengstoff sowie die Ergebnisse der Analyse
beschlagnahmten. Völlig überraschend für die Öffentlichkeit und
die Rjasaner Behörden behauptete die Moskauer FSB-Führung dann
plötzlich, dass der Zwischenfall weder ein versuchter, noch ein
verhinderter Terroranschlag gewesen sei, sondern lediglich eine
Übung. In den Säcken habe sich kein Sprengstoff, sondern
lediglich Zucker befunden, der Zündmechanismus sei eine Attrappe
gewesen. Im Anschluss daran wurden nicht nur alle Beweise des
Vorfalls in Rjasan als geheim eingestuft und für 75 Jahre
versiegelt, sondern auch die Trümmer der bereits gesprengten
Wohnblocks wurden in großer Eile beseitigt.
Zwar erweckt der
Vorfall in Rjasan an sich bereits den Verdacht, dass der
russische Geheimdienst FSB die Anschlagserie unter der falschen
Flagge des islamischen Terrors inszeniert hatte, um damit eine
Legitimation für einen neuen Tschetschenienkrieg zu erhalten,
doch weitere Details deuten auf eine noch größere Tragweite der
Ereignisse hin. Höchst mysteriös erscheint zum Beispiel die
Tatsache, dass der Terroristenführer Schamil Bassajew, den der
Kreml für die Anschlagserie verantwortlich machte, zwar zur
selben Zeit im Süden Russlands tatsächlich einen Kleinkrieg
gegen die russische Armee führte, aber jegliche Beteiligung an
den Anschlägen vehement abstritt. Hinzu kommt, dass Bassajew
laut mehreren russischen Medienberichten selbst als langjähriger
Agent des russischen Militärgeheimdiensts GRU gilt, der von
Repräsentanten des Kreml wenige Wochen zuvor damit beauftragt
worden sein soll, einen Krieg in Tschetschenien zu beginnen.
Sogar der tschetschenische Mufti Achmat Kadyrow stellte im
Januar 2000 fest, dass der zweite Tschetschenienkrieg nicht von
tschetschenischen Rebellen begonnen worden sei, sondern von
Provokateuren, die im Dienste Moskaus standen. Er behauptete,
der russische Generalstab kontrolliere den Krieg auf beiden
Seiten der Front. Bemerkenswert ist, dass Kadyrow nach dieser
Aussage vom Kreml zum
russischen Statthalter in Tschetschenien ernannt wurde, wo er
den gewählten Präsidenten Aslan Maschadow ersetzte. Auch
Maschadow hatte schon im September 1999 ähnliche Ansichten geäußert, nämlich
dass die Rebellen rund um Bassajew von Moskau aus gesteuert und
finanziert würden. Weiter sagte er:
»Wir werden vermutlich
einen großen Krieg erleben, einen Flächenbrand. Daran sind aber
allein die Russen schuld. Der ganze Fundamentalismus,
Extremismus und Terrorismus ist künstlich geschaffen worden.«[2]
Bemerkenswert ist darüber hinaus, dass der zweite
Tschetschenienkrieg auf russischer Seite offenbar schon ein
halbes Jahr im Voraus geplant worden war. Wie Alexander
Litwinenko berichtete, hatte der frühere Geheimdienstchef
Sergej Stepaschin im Januar 2000 bekannt gegeben, dass die »Entscheidung, in Tschetschenien einzumarschieren, bereits im März 1999
getroffen« worden sei, dass man den Angriff »für August/September geplant« hatte und dass »es dazu selbst dann gekommen wäre, wenn es in Moskau keine Explosionen
gegeben hätte«.[3] Litwinenko kam angesichts der Ereignisse
zu folgendem Schluss: Die russischen Geheimdienste »wollten
Russland in einen Krieg mit Tschetschenien verwickeln und die
sich daraus ergebende Unruhe ausnutzen, um in Russland bei den
bevorstehenden Präsidentschaftswahlen im Jahr 2000 die Macht zu
übernehmen. (…) Das Ganze war nichts anderes als eine
Verschwörung mit dem Ziel, dem ehemaligen KGB eine
Machtergreifung unter der Parole eines Kampfs gegen den
tschetschenischen Terrorismus zu ermöglichen.«[4] Wenn dies
tatsächlich das Ziel der Anschläge war, dann wurde es erreicht,
denn knapp drei Monate nach Beginn des zweiten
Tschetschenienkrieges konnte der langjährige KGB/FSB-Offizier
Wladimir Putin am »Tag der Tschekisten« in der
Geheimdienstzentrale verkünden: »Erlauben
Sie mir, Bericht zu erstatten, dass die von Ihnen in die
Regierung abkommandierten Mitarbeiter des FSB ihre Aufgabe
erfolgreich erfüllen.«[5]
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Torsten
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