Der folgende Artikel wurde kurz nach der Präsidentschaftswahl in der
Ukraine im Januar 2010 geschrieben und erstmals veröffentlicht. Aus
der anschließenden Stichwahl ging wenige Wochen später Wiktor
Janukowytsch als Wahlsieger hervor, der bereits zuvor den Plan einer
zukünftigen Integration der Ukraine in eine einheitliche Eurasische
Wirtschaftsunion mit Russland, Weißrussland und Kasachstan als
»alternativlos« bezeichnet hatte. Zum damaligen Zeitpunkt
lag der sogenannte »Euromaidan«, der schließlich zur Absetzung von
Janukowytsch führte und auf den die Krimkrise und die russische
Invasion in der Ostukraine folgte, noch Jahre in der Zukunft. Der
Artikel gibt den Stand vom Januar 2010 wieder und wird an dieser
Stelle nicht nur deshalb wiederholt, weil die zwischenzeitlichen
Ereignisse in der Ostukraine unter Beweis stellen, wie zutreffend
der Artikel die spätere Entwicklung vorweggenommen hat, sondern
auch, weil ein Leser ausdrücklich um eine erneute Veröffentlichung
gebeten hat. Nachdem Moskau durch die ukrainischen Bürgerproteste im
Rahmen des »Euromaidan« die Kontrolle über die Ukraine zu verlieren
drohte, ließ der Kreml im Frühjahr 2014 eine militärische Invasion
folgen. Der Krieg in der Ostukraine, bei dem fast täglich Soldaten
und Zivilisten sterben, ohne dass die westliche Öffentlichkeit
wirklich Notiz davon nimmt, dauert bis heute an.
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Wird die Ukraine vom KGB kontrolliert?
– Januar 2010
Ein großes deutsches Nachrichtenmagazin
kommentierte das Ergebnis der ukrainischen Präsidentschaftswahl im
Januar 2010 mit den Worten »der
Sieger heißt Moskau«, denn beide Kandidaten der nun anstehenden
Stichwahl signalisierten bereits eine künftige Annäherung der
Ukraine an Russland. Doch an dieser künftigen Annäherung hätte wohl
auch ein anderer Wahlausgang nichts geändert, denn wie eine Studie
belegt, stehen alle großen Parteien der Ukraine nach wie vor unter
der Kontrolle des KGB und somit heißt der Sieger einer ukrainischen
Wahl immer Moskau.
Unter dem Titel Lustration – die
Ukraine unter der Macht des KGB verfasste der in Kiew und Prag
lebende Gründer und Vorsitzende der Bürgerinitiative Forum von
Ukrainern der Tschechischen Republik, Boris Chykulay, im Mai
2009 eine Studie, in der er den Lebenslauf von 909
Schlüsselfunktionären aus dem politischen Leben der Ukraine
untersucht hat. Die Ergebnisse dieser Studie sind ebenso eindeutig
wie alarmierend. Nicht weniger als 51 Prozent der untersuchten
Funktionäre im Präsidialsekretariat, dem Ministerkabinett und dem
Parlament stehen parteiübergreifend im Verdacht, als Agenten für das
sowjetische KGB tätig gewesen zu sein. Die Zahl von 51 Prozent setzt
sich wie folgt zusammen:
– 4%, d.h. 38 Beamte: erwiesene KGB-Agenten – 27%, d.h. 244
Beamte: höchstwahrscheinlich KGB-Agenten – 20%, d.h. 178 Beamte:
wahrscheinlich KGB-Agenten
Wie der Verfasser betont, handelt
es sich dabei jedoch lediglich um die Spitze des Eisberges, denn in
den öffentlich zugänglichen Quellen und Biografien, auf denen seine
Studie basiert, fehlen in 49 Prozent der Fälle, also bei 449
Personen, Angaben über den beruflichen Werdegang des jeweiligen
ukrainischen Staatsbeamten zu Sowjetzeiten, sodass mit einem weit
höheren Prozentsatz von KGB-Agenten gerechnet werden muss. Noch
größer ist der Prozentsatz der »früheren« Kommunisten, die heute
Schlüsselfunktionen im politischen Leben der Ukraine besetzen. Von
den 909 untersuchten Funktionären haben ganze 61 Prozent einen
kommunistischen Hintergrund. Diese Zahl setzt sich zusammen aus:
– 15%, d.h. 132 Beamte: erwiesene Kommunisten – 22%, d.h.
196 Beamte: höchstwahrscheinlich Kommunisten – 25%, d.h. 224
Beamte: wahrscheinlich Kommunisten
Dabei spielt es
offensichtlich keine Rolle, welche politische Ausrichtung die
jeweilige Partei offiziell vertritt, denn sowohl auf der linken wie
auf der rechten Seite des politischen Spektrums und unabhängig
davon, ob sich die Partei pro-westlich oder pro-russisch gibt,
dominiert der Einfluss »ehemaliger« KGB-Agenten und Kommunisten.
Egal welche Partei der Wähler in der Ukraine somit wählt, die Macht
verbleibt stets in den Händen der alten sowjetischen Nomenklatura,
die nicht das Volk repräsentiert und nicht seine Interessen
vertritt. Als Folge davon lehnen 85 Prozent der Ukrainer die Politik
ihrer Regierung ab, nur vier Prozent waren laut jüngsten Umfragen
mit der Politik ihres Landes zufrieden.
Vor diesem
Hintergrund spricht Boris Chykulay von der Ukraine als Teil einer »heimlichen
Sowjetunion«, in der nach wie vor der »Gestank des
Kommunismus« wahrnehmbar sei, und er betont, dass es in der
Ukraine seit dem Fall der Sowjetunion keine wirklichen Reformen
gegeben habe, weshalb es bis heute auch keine Demokratie geben kann.
Stattdessen behalte das KGB nach wie vor die Kontrolle nicht nur
über die Politik, sondern auch über die Wirtschaft und über die
Medien des Landes, wobei Letztere nicht über die wahren Vorgänge
hinter den Kulissen berichten und somit eine öffentliche Diskussion
verhindern. Stattdessen präsentieren sie sowohl dem ukrainischen
Volk wie der Weltöffentlichkeit eine vom KGB und der kommunistischen
Partei inszenierte Fiktion.
Chykulay versichert, dass sein
Volk echte Reformen und eine Annäherung des Landes an den Westen
wünsche. Seine Studie schließt mit den Worten, dass ein echter
ukrainischer Staat erst dann zustande kommen könne, wenn ein Gesetz
verabschiedet worden sei, das analog dem früheren deutschen
Radikalenerlass oder dem tschechischen Lustrationsrecht die
Beschäftigung ehemaliger Kommunisten und Geheimdienstmitarbeiter in
staatlichen Ämtern und im öffentlichen Dienst verhindert.
Doch statt einer Anbindung der Ukraine an den Westen präpariert das
alte kommunistische Establishment offensichtlich eine Angliederung
des Landes an Russland und damit die Wiederherstellung sowjetischer
Strukturen. Hierzu schreibt Chykulay: »Die Ergebnisse der vorliegenden Studie zeigen eindeutig, dass die
Regierung und das ›breite‹ politische Spektrum in der Ukraine eine
KGB- und kommunistisch geprägte Struktur darstellt, die durch die
Verwendung von Phrasen, Halbwahrheiten, Theater und vorgetäuschter
Scheinkonkurrenz aufrecht erhalten wird. Daraus folgt
offensichtlich, dass es die Aufgabe der ukrainischen Staatsbeamten
unter der Kontrolle des KGB und der früheren kommunistischen Elite
ist, die Unabhängigkeit des Staates zu diskreditieren und die
Akzeptanz der Unabhängigkeit im Volk herabzusetzen, indem man das
Recht abschafft, Reformen unterlässt, Kitsch populär macht und eine
Nostalgie hervorruft, die danach trachtet, die Ukraine mit Russland
in Form einer Neo-Sowjetunion wiederzuvereinigen.« Wie Chykulay
berichtet, rechnet das ukrainische Volk offenbar bereits damit, dass
der Kreml versuchen werde, die Ukraine an Russland anzugliedern, und
es wird befürchtet, dass entsprechende Vorbereitungen für eine
Annektierung der Ukraine auf politischem Wege bereits laufen. Man
rechnet offenbar mit einer russischen Provokation, zum Beispiel auf
der Krim oder in Kiew. Ein kürzlich in Russland erlassenes Gesetz,
das die Armee dazu berechtigt, im Ausland einzugreifen, falls die
Rechte der dort lebenden Russen verletzt würden, sei vor diesem
Hintergrund sogar als Vorbereitung für eine mögliche Invasion nach
dem Muster des Georgien-Krieges im Jahr 2008 zu sehen.
Eine
ähnliche Studie, die vor wenigen Jahren von Olga Kryshtanovskaya in
Russland durchgeführt wurde, kam zu vergleichbaren Ergebnissen. Dort
hatten ganze 78 Prozent der untersuchten Politiker Verbindungen zum
KGB bzw. FSB. Dies zeigt sehr eindrucksvoll, dass der KGB-Überläufer
Anatoliy Golitsyn Recht hatte, als er schon 1984 vor der ein Jahr
später beginnenden Perestroika warnte und sie ein gewaltiges
Täuschungsmanöver nannte. Denn offensichtlich werden die Staaten der
Sowjetunion auch zwei Jahrzehnte nach dem angeblichen Kollaps des
Kommunismus im Verborgenen noch immer vom KGB und von der KPdSU
kontrolliert, und wie Golitsyn versicherte, würde die alte
sowjetische Elite auch unter dem Deckmantel der vorgetäuschten
Demokratie weiterhin nur ein Ziel verfolgen, nämlich den
Weltkommunismus zu errichten.
Nachsatz, Juli 2018:
Im August 2015 wurde Boris Chykulay von Henning Lindhoff erneut zu
seiner Studie und der aktuellen Entwicklung interviewt. Dieses
Interview findet sich auf der Website von Blastingnews:
Ostukraine - Krieg der Alt-Sowjets
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