24.Juli 2018
Wird die Ukraine vom KGB kontrolliert?

von Torsten Mann

 


Der folgende Artikel wurde kurz nach der Präsidentschaftswahl in der Ukraine im Januar 2010 geschrieben und erstmals veröffentlicht. Aus der anschließenden Stichwahl ging wenige Wochen später Wiktor Janukowytsch als Wahlsieger hervor, der bereits zuvor den Plan einer zukünftigen Integration der Ukraine in eine einheitliche Eurasische Wirtschaftsunion  mit Russland, Weißrussland und Kasachstan als »alternativlos« bezeichnet hatte. Zum damaligen Zeitpunkt lag der sogenannte »Euromaidan«, der schließlich zur Absetzung von Janukowytsch führte und auf den die Krimkrise und die russische Invasion in der Ostukraine folgte, noch Jahre in der Zukunft. Der Artikel gibt den Stand vom Januar 2010 wieder und wird an dieser Stelle nicht nur deshalb wiederholt, weil die zwischenzeitlichen Ereignisse in der Ostukraine unter Beweis stellen, wie zutreffend der Artikel die spätere Entwicklung vorweggenommen hat, sondern auch, weil ein Leser ausdrücklich um eine erneute Veröffentlichung gebeten hat. Nachdem Moskau durch die ukrainischen Bürgerproteste im Rahmen des »Euromaidan« die Kontrolle über die Ukraine zu verlieren drohte, ließ der Kreml im Frühjahr 2014 eine militärische Invasion folgen. Der Krieg in der Ostukraine, bei dem fast täglich Soldaten und Zivilisten sterben, ohne dass die westliche Öffentlichkeit wirklich Notiz davon nimmt, dauert bis heute an.




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Wird die Ukraine vom KGB kontrolliert? Januar 2010

Ein großes deutsches Nachrichtenmagazin kommentierte das Ergebnis der ukrainischen Präsidentschaftswahl im Januar 2010 mit den Worten »der Sieger heißt Moskau«, denn beide Kandidaten der nun anstehenden Stichwahl signalisierten bereits eine künftige Annäherung der Ukraine an Russland. Doch an dieser künftigen Annäherung hätte wohl auch ein anderer Wahlausgang nichts geändert, denn wie eine Studie belegt, stehen alle großen Parteien der Ukraine nach wie vor unter der Kontrolle des KGB und somit heißt der Sieger einer ukrainischen Wahl immer Moskau.

Unter dem Titel Lustration – die Ukraine unter der Macht des KGB verfasste der in Kiew und Prag lebende Gründer und Vorsitzende der Bürgerinitiative Forum von Ukrainern der Tschechischen Republik, Boris Chykulay, im Mai 2009 eine Studie, in der er den Lebenslauf von 909 Schlüsselfunktionären aus dem politischen Leben der Ukraine untersucht hat. Die Ergebnisse dieser Studie sind ebenso eindeutig wie alarmierend. Nicht weniger als 51 Prozent der untersuchten Funktionäre im Präsidialsekretariat, dem Ministerkabinett und dem Parlament stehen parteiübergreifend im Verdacht, als Agenten für das sowjetische KGB tätig gewesen zu sein. Die Zahl von 51 Prozent setzt sich wie folgt zusammen:  

– 4%, d.h. 38 Beamte: erwiesene KGB-Agenten
– 27%, d.h. 244 Beamte: höchstwahrscheinlich KGB-Agenten
– 20%, d.h. 178 Beamte: wahrscheinlich KGB-Agenten

Wie der Verfasser betont, handelt es sich dabei jedoch lediglich um die Spitze des Eisberges, denn in den öffentlich zugänglichen Quellen und Biografien, auf denen seine Studie basiert, fehlen in 49 Prozent der Fälle, also bei 449 Personen, Angaben über den beruflichen Werdegang des jeweiligen ukrainischen Staatsbeamten zu Sowjetzeiten, sodass mit einem weit höheren Prozentsatz von KGB-Agenten gerechnet werden muss. Noch größer ist der Prozentsatz der »früheren« Kommunisten, die heute Schlüsselfunktionen im politischen Leben der Ukraine besetzen. Von den 909 untersuchten Funktionären haben ganze 61 Prozent einen kommunistischen Hintergrund. Diese Zahl setzt sich zusammen aus:

– 15%, d.h. 132 Beamte: erwiesene Kommunisten
– 22%, d.h. 196 Beamte: höchstwahrscheinlich Kommunisten
– 25%, d.h. 224 Beamte: wahrscheinlich Kommunisten

Dabei spielt es offensichtlich keine Rolle, welche politische Ausrichtung die jeweilige Partei offiziell vertritt, denn sowohl auf der linken wie auf der rechten Seite des politischen Spektrums und unabhängig davon, ob sich die Partei pro-westlich oder pro-russisch gibt, dominiert der Einfluss »ehemaliger« KGB-Agenten und Kommunisten. Egal welche Partei der Wähler in der Ukraine somit wählt, die Macht verbleibt stets in den Händen der alten sowjetischen Nomenklatura, die nicht das Volk repräsentiert und nicht seine Interessen vertritt. Als Folge davon lehnen 85 Prozent der Ukrainer die Politik ihrer Regierung ab, nur vier Prozent waren laut jüngsten Umfragen mit der Politik ihres Landes zufrieden.

Vor diesem Hintergrund spricht Boris Chykulay von der Ukraine als Teil einer »heimlichen Sowjetunion«, in der nach wie vor der »Gestank des Kommunismus« wahrnehmbar sei, und er betont, dass es in der Ukraine seit dem Fall der Sowjetunion keine wirklichen Reformen gegeben habe, weshalb es bis heute auch keine Demokratie geben kann. Stattdessen behalte das KGB nach wie vor die Kontrolle nicht nur über die Politik, sondern auch über die Wirtschaft und über die Medien des Landes, wobei Letztere nicht über die wahren Vorgänge hinter den Kulissen berichten und somit eine öffentliche Diskussion verhindern. Stattdessen präsentieren sie sowohl dem ukrainischen Volk wie der Weltöffentlichkeit eine vom KGB und der kommunistischen Partei inszenierte Fiktion.

Chykulay versichert, dass sein Volk echte Reformen und eine Annäherung des Landes an den Westen wünsche. Seine Studie schließt mit den Worten, dass ein echter ukrainischer Staat erst dann zustande kommen könne, wenn ein Gesetz verabschiedet worden sei, das analog dem früheren deutschen Radikalenerlass oder dem tschechischen Lustrationsrecht die Beschäftigung ehemaliger Kommunisten und Geheimdienstmitarbeiter in staatlichen Ämtern und im öffentlichen Dienst verhindert.

Doch statt einer Anbindung der Ukraine an den Westen präpariert das alte kommunistische Establishment offensichtlich eine Angliederung des Landes an Russland und damit die Wiederherstellung sowjetischer Strukturen. Hierzu schreibt Chykulay: »Die Ergebnisse der vorliegenden Studie zeigen eindeutig, dass die Regierung und das ›breite‹ politische Spektrum in der Ukraine eine KGB- und kommunistisch geprägte Struktur darstellt, die durch die Verwendung von Phrasen, Halbwahrheiten, Theater und vorgetäuschter Scheinkonkurrenz aufrecht erhalten wird. Daraus folgt offensichtlich, dass es die Aufgabe der ukrainischen Staatsbeamten unter der Kontrolle des KGB und der früheren kommunistischen Elite ist, die Unabhängigkeit des Staates zu diskreditieren und die Akzeptanz der Unabhängigkeit im Volk herabzusetzen, indem man das Recht abschafft, Reformen unterlässt, Kitsch populär macht und eine Nostalgie hervorruft, die danach trachtet, die Ukraine mit Russland in Form einer Neo-Sowjetunion wiederzuvereinigen.« Wie Chykulay berichtet, rechnet das ukrainische Volk offenbar bereits damit, dass der Kreml versuchen werde, die Ukraine an Russland anzugliedern, und es wird befürchtet, dass entsprechende Vorbereitungen für eine Annektierung der Ukraine auf politischem Wege bereits laufen. Man rechnet offenbar mit einer russischen Provokation, zum Beispiel auf der Krim oder in Kiew. Ein kürzlich in Russland erlassenes Gesetz, das die Armee dazu berechtigt, im Ausland einzugreifen, falls die Rechte der dort lebenden Russen verletzt würden, sei vor diesem Hintergrund sogar als Vorbereitung für eine mögliche Invasion nach dem Muster des Georgien-Krieges im Jahr 2008 zu sehen.

Eine ähnliche Studie, die vor wenigen Jahren von Olga Kryshtanovskaya in Russland durchgeführt wurde, kam zu vergleichbaren Ergebnissen. Dort hatten ganze 78 Prozent der untersuchten Politiker Verbindungen zum KGB bzw. FSB. Dies zeigt sehr eindrucksvoll, dass der KGB-Überläufer Anatoliy Golitsyn Recht hatte, als er schon 1984 vor der ein Jahr später beginnenden Perestroika warnte und sie ein gewaltiges Täuschungsmanöver nannte. Denn offensichtlich werden die Staaten der Sowjetunion auch zwei Jahrzehnte nach dem angeblichen Kollaps des Kommunismus im Verborgenen noch immer vom KGB und von der KPdSU kontrolliert, und wie Golitsyn versicherte, würde die alte sowjetische Elite auch unter dem Deckmantel der vorgetäuschten Demokratie weiterhin nur ein Ziel verfolgen, nämlich den Weltkommunismus zu errichten.

Nachsatz, Juli 2018: Im August 2015 wurde Boris Chykulay von Henning Lindhoff erneut zu seiner Studie und der aktuellen Entwicklung interviewt. Dieses Interview findet sich auf der Website von Blastingnews: Ostukraine - Krieg der Alt-Sowjets




T
orsten Mann, Jahrgang 1976, ist politischer Publizist. Er vertritt die These, dass der Kommunismus zu Beginn der 1990er Jahre nicht untergegangen ist, sondern unter Beibehaltung seiner Ziele lediglich eine planmäßige Umgestaltung seiner Methoden vorgenommen hat.

 

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